Von Rishikesh führt uns unser Weg über Umwege gen nepalesische Grenze. Wir erhaschen noch einen Blick auf die indischen Ausläufer des Himalaya, bevor wir in den Dschungel rollen und unsere letzten, aufregenden Tage in Indien verbringen.

Viel Spaß beim Lesen!

Unsere „Winterpause“ dauert am Ende doch etwas länger als anfangs gedacht. Mit einer wirklichen Pause hat es letztlich auch nichts mehr zu tun gehabt. Entsprechend angespannt verlassen wir Rishikesh in Richtung Norden, in die Berge.
Wir haben lange überlegt, welchen Weg wir einschlagen sollen. Im Süden verläuft der Highway durch das flache Terrain. Im Norden gibt es mehrere Möglichkeiten, doch wir wissen nicht wie die Straßenverhältnisse sind. Außerdem ist diese Route mit mehreren Pässen verbunden. Wir wählen letztlich einen Mittelweg, bei dem wir nicht zu weit in die Berge hineinfahren, allerdings sind wir dann bei unserem nächsten Problem. Die Straßen führen entlang eines Nationalparks und wir wissen nicht, ob wir diesen mit dem Fahrrad befahren dürfen. Von anderen Radlern haben wir erfahren, dass sie an einigen Checkpoints in der Nähe des Nationalparks nicht durchgelassen wurden. Auf unterschiedlichen Karten befindet sich die Straße manchmal innerhalb und manchmal außerhalb des Nationalparks.
Die Aussichten sind also so ungewiss, wie schon lange nicht mehr. Doch als wir wieder auf den Rädern sitzen verfliegt alles und wir freuen uns direkt auf das bevorstehende Abenteuer!

Wir radeln den Ganga entlang gen Norden. Die Landschaft ist traumhaft. Schon bald sind wir umgeben von 1000er Bergen. Am Fuße der steilen Hänge schimmert uns der heilige Fluss entgegen! Gegen frühen Nachmittag beginnt jedoch schon unsere Suche nach einer Unterkunft, denn den ersten Pass wollen wir uns für den zweiten Tag aufheben. An Wildcamping ist in diesen steilen Gefilden nicht wirklich zu denken.

Wir fragen an einem Resort, ob wir unser Zelt im Garten aufstellen können, aber dies stößt nur auf Unverständnis. Dann finden wir ein muffiges, verrauchtes Zimmer in einem Hotel an der Hauptstraße. Wir überlegen kurz und versuchen es dann doch noch mit der weiteren Suche. In einer anderen kleinen Unterkunft können wir nicht rein, weil sie „noch putzen müssen“. Wir rollen wieder zurück zu dem muffigen Zimmer, dabei sehen wir ein unscheinbares Haus am Hang, die Balkone könnten auf eine Unterkunft hinweisen. Als wir davorstehen, erblicken wir tatsächlich das kleine Schild „AC Room!“
Das kleine schäbige Restaurant hat vielleicht drei oder vier kleine Plastiktische zu bieten. Die Männer schauen uns grimmig an. Kalter Zigarettenrauch liegt in der Luft. Wir fragen trotzdem, ob wir das Zimmer sehen dürfen. Der Mann führt uns eine kleine, wackelige Treppe hinunter. Als er dann die Tür öffnet, sind wir mehr als überrascht, denn es ist wohl eine unserer schönsten Unterkünfte in Indien. Wer hätte das gedacht!

Die Aussichten bleiben spektakulär. Das einzig beunruhigende sind teilweise bröckelnde Felswände und die Spuren von Erdrutschen am Straßenrand. Wir folgen dem Ganga bis Devprayag. Dort überqueren wir den Fluss und radeln flussabwärts auf einer kleineren Straße wieder ein Stück Richtung Süden. Ohne den Verkehr der Hauptstraße können wir die Natur noch mehr genießen. Die massiven Berge liegen vor uns. Die Sonne steht tief, wir sind fast den ganzen Tag im Schatten.
Wir verlassen Indiens heiligsten Fluss und folgen dem Flussverlauf des Nayars nach Osten. Es ist eine gut asphaltierte Straße. Wir genießen die frische Luft und die Natur während sich die Frühlingsgefühle in uns breit machen. Es tut gut, wieder im Sattel zu sitzen.

Vor uns liegt der erste, ernstzunehmende Pass in Indien. Von Satpuli (ca. 600 müNN) geht es hoch auf knapp 1.600 m. In der kleinen, quirligen Bergstadt decken wir uns mit Obst und Gemüse ein. Es ist ein nebeliger, nasser, kalter Morgen. In der Basarstraße qualmen Feuer zum Wärmen, Kinder gehen in die Schule, Holzkarren mit Gemüse, Stoffen und Plastikramsch werden durch die kleine Gasse geschoben. Zwei Serpentinen weiter bergauf finden wir ein kleines Restaurant, wir bestellen uns einige paneer parantha (in Öl gebratene Fladenbrote mit Käse) zum Frühstück. Zuvor natürlich Hände waschen. Das Waschbecken und das Stück Seife findet sich auch im kleinsten Imbiss. Unsere Räder stehen in der Innenkurve der Serpentine neben einer Kuh. Ein Bild, was für uns einfach normal geworden ist.
Wir kurbeln uns immer weiter den Berg hinauf. Der Verkehr ist entspannt, nur ab und an rast ein Bus an uns vorbei. In den Kurven haben die überfüllten Busse immer wieder eine ordentliche Schieflage und wir sind mehr als froh nicht drinnen sitzen zu müssen. Wir passieren hin und wieder kleine Dörfchen, staunen über die terrassierten Hänge und genießen es in den Bergen zu sein, auch wenn diese uns ganz schön fordern.

Wir erreichen den Pass, einen Straßenzug in dem man alles bekommt, was man (nicht wirklich) braucht. Von Lebensmitteln bis hin zur neuen Handyhülle. Die Adler kreisen über dem Müll, Affen sitzen auf den kleinen Buden in denen Frittiertes verkauft wird

Auf der Südseite ändert sich die Vegetation. Es wird trockener. Pinien statt Hartlaubgewächsen säumen die Wälder. Der Geruch versetzt uns immer wieder in mediterrane Urlaubsgefühle. Als wir uns gerade die Jacken für die Abfahrt anziehen wollen, treffen wir auf Sateshwari. Sie trägt einen 10 kg Sack Mehl auf ihrem Kopf und erzählt uns, dass sie manchmal bis zu 20 kg transportiert, was nichts Ungewöhnliches in Indien ist. Die Frauen tragen hier fast alles auf dem Kopf durch die Gegend: Vom Mehl bis zum frischen Beton, der auf die nächste Baustelle gebracht wird.
Wir kommen ins Gespräch. Sie ist auf dem Weg nach Hause, war gerade hier in der Passstraße einkaufen. Sie zeigt uns Familienfotos auf dem Handy und verschwindet dann auf einem Trampelpfad im Wald.

Am Abend ereilt uns dann noch eine Freude. Wir finden einen richtigen Campingplatz und können seit ca. drei Monaten endlich wieder in unserer Vila Sonnenschein schlafen!

Wir befinden uns nördlich des Corbett Nationalparks. Als wir von der Hauptstraße auf die kleine Verbindungsstraße gen Osten abbiegen, radeln wir durch ein Tor, welches die Straße überspannt. Nun sind diese Tore seit langem schon nichts Neues mehr für uns, doch diesmal sind wir doch etwas aufgeregter. Es ist sozusagen die Forte in den Dschungel. Etwas später, als wir dem Nationalpark näherkommen, ein in Stein gehauenes Schild des Tigers! Ja, wir sind wieder etwas aufgeregt, wie einst in Rumänien, als wir im Gebiet der Braunbären unterwegs waren. Aber es ist doch etwas surreal, dass hier Tiger, Elefanten und Leoparden leben.
Die Vegetation, die uns umgibt, ist einfach nur wunderschön. Verwunschene Bäume umschlungen von Lianen. Grün soweit das Auge reicht! Bäche und exotisches Vogelgezwitscher statt Hupen und Motorenlärm.

Gegen späten Nachmittag treten wir trotz Erschöpfung noch etwas mehr in die Pedale. Man hat uns gesagt, wir sollen spätestens gegen fünf Uhr an der Unterkunft sein, da die wilden Tiere gern in der Dämmerungszeit durch den Dschungel streifen. Als wir da ankommen, ereignet sich erneut ein Schauspiel der indischen Kommunikationskunst, denn der Besitzer des Homestays erklärt uns vor seinen Freunden, wie gefährlich es sei, nach 15 Uhr auf der Straße unterwegs zu sein, obwohl er uns doch am Tag zuvor noch sagte, es sei kein Problem bis 17 Uhr anzukommen. Außerdem können wir nun doch nicht über die kleine Straße weiterfahren. Wir müssen einen Umweg über die Berge nehmen, obwohl er uns gestern nach mehrmaligem Nachfragen dreifach versicherte, dass dies kein Problem sein. Als sein Kumpel uns dann auch noch erzählt, sie hätten einen Tiger gesehen, als sie uns mit dem Auto überholten, können auch wir nur noch mit „Yes, yes, no problem!“ und dem typisch indischen Kopfwackler antworten…

Als wir einen Tag später im nächsten Homestay ankommen, merkt man uns die dezente Zurückhaltung und das Misstrauen bezüglich jeder Aussage wohl an. Uns wird immer wieder versichert, dass es keine versteckten Preise und keine Abzocke gibt.
Devendra will uns wirklich nicht abzocken und wir sind ehrlich gesagt auch etwas enttäuscht von uns selbst. Wir haben wohl etwas das Grundvertrauen verloren, begegnen den Menschen zunächst eher mit Misstrauen als mit offenen Armen. Doch vielleicht waren es einfach ein paar Märchen zu viel für uns in der letzten Zeit. In Devendras Homestay fühlen wir uns jedenfalls mit jeder Minute wohler und wir genießen den Abend am Rande des Dschungels. Am nächsten Morgen erfahren wir, dass in der Nacht eine Kuh im Dorf von einem Leoparden gerissen wurde, was wohl hin und wieder mal vorkommen soll. 
Außerdem entpuppt sich Devendra als waschechter Outdoorfan. Er selbst besitzt auch ein Fahrrad und liebt die Berge über alles. Er ist fasziniert, als wir unser Frühstück auf unserem Campingkocher zubereiten. Er will heute auch nach Nainidanda fahren, denn dort befindet sich sein eigentliches Zuhause und er sagt, dass er uns dort eine Unterkunft im Dorf besorgen kann. Was er genau damit meint, wissen wir natürlich nicht. Wir lassen uns einfach überraschen und begeben uns auf die nächste Bergetappe. So ganz ist unser Vertrauen jedoch noch nicht zurück und wir haben für den Notfall auch etwas anderes parat.

Stück für Stück winden wir uns nach oben. Wir verlassen den feuchten Wald im Tal, wo die Dorfbewohner*innen Futter für das Vieh oder Holz zum Feuern holen und strampeln bei bestem Wetter auf der guten Straße in immer trockener werdende Landschaft. Wir stellen uns die Gegend nach dem Monsun vor, wenn alles in voller, grüner Pracht erstrahlt und das Wasser aus jeder Pore sprudelt.

Dann geschieht auch für uns eine recht lustige Kuriosität, aber versuchen wir uns in den jungen, indischen Mann hineinzuversetzen, der gerade zwei vollbepackte Radfahrer*innen überholt hat. Wir befinden uns in einer nicht allzu touristischen Gegend und vielleicht hat er noch nie Europäer*innen gesehen. Etwas später bleibt er am Hang stehen, der Tank ist leer. Die zwei Radler*innen kommen angerollt und fragen, ob er Hilfe braucht. Hoffnungslos erklärt er das Problem und schaut dann unglaubwürdig auf uns beide, die angeblich Benzin mit Fahrrädern den Berg hinauffahren. Erst als er eine Nase aus unserer Kocherflasche genommen hat, verwandelt sich sein Gesicht in pure Freude. Danach klemmt auch noch sein Schlüssel im Tankdeckel fest. Wir zaubern unser Senföl aus der Küchentasche, der Schlüssel lockert sich und mit neuem Treibstoff von unserer mobilen Werkstatt tuckert er fröhlich davon. Auch wir können nach dieser Aktion nicht mehr vor Lachen.

Wir kurbeln weiter in der Abendsonne den Berg hinauf. Kurz bevor wir oben sind, erhaschen wir einen Blick auf die weit entfernten, von der Sonne angestrahlten, weißen Gipfel des Himalaya.

Wenig später werden wir von Devendra in Nainidanda begrüßt und zu seinem Haus geführt. Da wir ja noch immer in Indien sind, fragen wir vorsichtshalber nach, was die Nacht denn kosten soll? Er lacht und sagt: „Das ist mein Zuhause und heute seid ihr meine Gäste.“
Unsere Räder parken wir nach dem Abladen vorm Schnapsgeschäft nebenan. Heute Abend nach Ladenschluss werden sie dort eingeschlossen. In der zweiten Etage des Hauses wohnen Devendra und seine Frau Biina. Erstmal gibt es chai im Wohnzimmer unter den Götterplakaten und dem Bild seines verstorbenen Vaters. Er erzählt uns, was er beruflich schon alles gemacht hat und wie es letztlich zur Eröffnung seines Homestays im Tal kam. Zuvor hatte er z.B. im Kaschmir an der Grenze zu Pakistan als Soldat gearbeitet, was ihm mit der Zeit einfach zu gefährlich wurde. Als sich die Gelegenheit bot, kaufte er das Stück Land am Fluss im, mit dem Motorrad, etwa 45 min entfernten Maidawan und ist seitdem damit beschäftigt, sein kleines Paradies zu gestalten.
Besonders leuchten seine Augen bei seinen Erzählungen über seine Trekkingtouren mit seiner Familie oder seinen Freunden. Verständlich, denn wenig später zeigt uns Devendra mit den Worten „nach dem Radfahren ist laufen gesund“ bei einem Spaziergang seine Heimat. Die großen Berge sind zwar mittlerweile hinter den Wolken versteckt, aber der Ausblick auf die Täler ist trotzdem wunderschön. Der Duft von Pinienwäldern steigt uns in die Nase und große Raubvögel kreisen über uns. Auf dem Rückweg spazieren wir durchs Dorf und halten bei so ziemlich allen Verwandten der Familie an, um kurz „Namaste“ zu sagen. Genau wie Biina sind so gut wie alle Frauen, die wir dabei treffen, Lehrerinnen hier im Ort.

Zurück im Haus wird es langsam frisch. Hier gibt es zwar Fenster, die Devendra selbst zusammengeschweißt hat, allerdings ist der Flur offen und nur mit Planen zugehangen. Eine fest installierte Heizung, wie wir sie aus der Heimat kennen, ist uns in Indien nie begegnet.  Entweder setzen sich die Familien ans Feuer oder es werden kleine, elektrische Heizlüfter in die Zimmer gestellt. Warm anziehen hilft in jedem Fall, aber vorher heißt es für uns noch schnell unter die kalte Dusche springen. Auch hier gibt es zwar manchmal einen Warmwasserboiler, aber der muss eine ganze Weile vorher angeschaltet werden. Die viel verbreitetere Variante ist der Tauchsieder, der das Wasser im befüllten Eimer erhitzen soll. Kalt Duschen ist für uns ja längst normal, deshalb sparen wir uns die Zeit, lassen das kalte Wasser ein, schöpfen es mit dem Schöpfgefäß aus dem Eimer und überschütten uns nach und nach damit – Duschen auf Indisch eben.
Später folgen die obligatorischen Videocalls, die wir seit der Türkei kennen. Heute schnacken wir zuerst mit Devendras ältester Tochter, die mit Bruder und Schwester in Delhi wohnt. Im Anschluss erblicken wir noch einen besten Freund im Bildschirm, der ein paar Brocken Deutsch spricht. Es folgen die altbekannten Fragen und Reaktionen: „Mit dem Fahrrad? Also wirklich mit dem Fahrrad? Welche Länder habt ihr bereist? Wie gefällt euch Indien?“
Zwischendrin gibt’s heißen, scharfen chai zum Aufwärmen und Trekkingbilder zum Staunen. Bei uns macht sich der Radfahrhunger schon länger bemerkbar und wir sind froh, dass wir nun in die Küche umziehen. Hier ist es deutlich wärmer. Biina und Devendra kochen in aller Ruhe für uns, aber das Warten auf das köstliche matar paneer lohnt sich. Auch hier essen wir wieder alleine. Dass in Indien nicht gemeinsam gegessen wird, kennen wir zwar nun, aber es ist trotzdem immer wieder komisch so bedient zu werden. Mindestens genauso komisch, wie die Tatsache, dass man sich nicht wirklich bedankt, wie wir es aus unseren Kulturkreisen kennen.

Die beiden beruhigen uns mit den Worten, dass wir ja morgen zum Frühstück Pasta machen können. Wie ernst diese Aussage gemeint ist, wissen wir auch noch nicht.
Zwischendurch ruft noch der Schnapsverkäufer von unten an, dass wir die Räder nun reinstellen können. Dies wird abenteuerlicher als gedacht, denn neben einem besoffenen Kunden, der die ganze Zeit im Weg steht, versucht sich auch noch eine Kuh in den kleinen Shop zu quetschen. Doch nach ein paar Minuten hin und her stehen unsere Räder dann am Schnapsregal und der Laden wird mit dem donnernden Herunterlassen des Rolltors dicht gemacht. Nach dem Essen sollen wir dann aber auch schnell ins Bettchen verschwinden, denn morgen steht eine größere Etappe bevor, für die wir laut Devendra nicht später als 07.30 Uhr starten sollten. Die beiden schlafen heute in der Küche, denn ihr Ehebett wird uns überlassen.
Am Morgen stellen wir fest, dass die Sache mit der Pasta wohl doch ernst gemeint war. Natürlich haben wir weder Pasta noch Appetit darauf. Letztlich gibt’s Rührei und frischen Kaffee aus unserer Mokkakanne. Wir lachen uns mal wieder schlapp. Mit dem pünktlichen Losfahren hat es dann auch niemand mehr so ernst genommen.

In Regensachen eingepackt geht es heute vor allem erstmal runter, bis wir wieder im Dschungel landen. Als wir unterwegs noch einen Kaffee kochen, hält ein Autofahrer an, der uns vor den Leoparden warnt. Es sei wohl besser nicht hier anzuhalten, da es schon einige Unfälle mit Raubkatzen gab. Wir rollen lieber schleunigst weiter.
Später geht es für uns dann eine ganze Weile durch den Wildlife Corridor des Corbett National Park. Uns ist natürlich schon etwas mulmig zumute bei den ganzen Warnschildern, aber es ist auch so viel Verkehr, dass man sich kaum vorstellen kann, dass hier Elefanten, Tiger und co. unseren Weg wirklich kreuzen. Wir sehen nur friedliche Rehe und einen Elefanten an der Kette.
So langsam kommen wir wieder in der Zivilisation an. Auf den kleinen Straßen in den Bergen haben wir fast vergessen, wie laut der indische Verkehr sein kann.

In Ramnagar kommen wir heute via Couchsurfing bei Monica unter. Die Straßen sind so verwinkelt, dass wir das Haus nicht finden. Wir fragen in den Straßen nach. Nach ein paar Anläufen werden wir fündig und sie springt uns auch schon in der engen Gasse entgegen. Wir tragen gemeinsam mit ihr und ihrem Bruder die Taschen in ihr ehemaliges Kinderzimmer, in dem wir wohnen werden. Auch die Frau des Bruders begrüßt uns kurz, bevor alle wieder an die Arbeit gehen. Alle drei arbeiten online für ausländische Firmen. Wir sollen erstmal ankommen, duschen und uns entspannen. Gesagt, getan. Draußen fängt es an zu regnen. Perfektes Timing für ein Dach und unseren ersten, richtigen Regen in Indien.
Später sitzen wir gemeinsam in der Küche, trinken chai und unterhalten uns ein wenig. Die drei wuseln dabei oft mit einem Ohr am Handy durch die Küche, denn sie sind ja noch im Dienst. Dazwischen springt der Hund Lio mit seinem lustigen Kostüm rum und die Mama, die kein Englisch spricht, werkelt irgendetwas in der Küche. Die beiden Geschwister erzählen irgendetwas davon, dass wir später gemeinsam zur Tante gehen könnten. Das passiert allerdings nicht mehr an diesem Abend. Da Monica ja noch arbeitet, wollen wir sie natürlich nicht stören und sind uns unsicher, ob wir jetzt nochmal nachfragen sollen. Es passiert also gar nichts. Die Kommunikation innerhalb des Hauses läuft über Whatsapp. Sie fragt, ob wir bereit sind für Dinner. Um 23 Uhr ist es dann soweit und wir essen mitten in der Nacht sabzi und chapati. Wir plaudern dabei über die verschiedenen Kulturen und räumen mit ein paar deutschen Klischees auf.
Gegen Mitternacht fallen wir dann völlig erschöpft ins Bett. Sie warnen uns noch vor, dass morgen früh irgendein Priester kommen wird, um irgendeine Zeremonie durchzuführen. Der hauseigene Tempel befindet sich direkt neben unserem Zimmer, es bleibt also spannend. Geweckt werden wir allerdings vom Geklimper der Metallgefäße, „muh“, „mäh“, Geschnatter, Gesang und co.

Beim gemeinsamen Safrantee gegen 11 Uhr am Morgen ist es wieder hektisch. Hier und da geht nebenbei ein Call ein, aber wir erfahren auch interessante Dinge von ihr, die den in unseren Augen absolut übertriebenen Hochzeitswahnsinn in diesem Land nochmal auf ein neues Level heben.
Sie selbst ist nicht gläubig und dennoch haben die Regeln einen immensen Einfluss auf ihr Leben, weil sie so stark in der Gesellschaft etabliert sind. Sie erzählt uns, dass z.B. eine Heirat zwischen Gläubigen des Hinduismus und dem Islam ein absolutes No-Go sei. Sie selbst hat mal einen Moslem gedatet, aber ihre Eltern würden sie wohl verstoßen, wenn sie diesen Mann heiraten würde. Auch eine andere Kaste sei ein riesiges Problem. Diesmal lag es nicht an ihrer Familie, denn ihre Eltern hätten sich die Hochzeit vorstellen können. Die Eltern des Zukünftigen allerdings nicht, denn sie hätten die Hochzeit ihres Sohnes mit einer Frau aus der „niederen Kaste“ niemals akzeptiert. Selbst wenn alles passt zwischen dem zukünftigen Brautpaar, dann können immer noch die Sterne falsch stehen, sodass eine Hochzeit besser nicht stattfinden sollte, denn sie wäre dann sowieso ohne Erfolgschancen.
Aber es gibt ein Wundermittel mit dem man wohl so manche Vorschrift außer Kraft zaubern kann: Geld! So erzählt sie uns z.B. auch, dass die Familie eine Verwandte verstoßen hat, weil sie einen Moslem heiratete, obwohl dieser sogar zum Hinduismus konvertierte. Keiner hat mehr mit den beiden gesprochen bis zu dem Zeitpunkt, als die beiden durch ihre Arbeit ziemlich reich wurden. Auf unsere Frage, was man denn dagegen tun kann, wenn die Sterne falsch stehen, antwortet Monica ganz selbstverständlich, dass man dem Priester einfach so viel Geld zustecken kann, dass er die richtigen Sterne prophezeit oder die Frau heiratet vor der eigentlichen Hochzeit einen Baum oder ein Tier, was zu einer Neuordnung der Sterne führt. Für uns ist es einfach unvorstellbar, was wir da alles erfahren. Monica erzählt uns diese Begebenheiten, als wäre es das Normalste der Welt.    

Der Priester war natürlich auch nach unserem Frühstück noch nicht da. Zeit ist hier ein dehnbarer Begriff. Wir spazieren mit Monica eine Runde durch den angrenzenden Wald, der zum Nationalpark gehört. Auch sie erzählt uns, dass sie vor ein paar Tagen eine ziemlich nahe Begegnung mit einem Leoparden hatte, der aber zum Glück schnell weggerannt ist. Wir essen noch gemeinsam Mittag, das Ehepaar und die Mutter sind schon schick angezogen, denn nun kommt der Priester wirklich. Monica hat keinen Bock auf die Zeremonie. Wir sitzen trotzdem wenig später alle im Tempelzimmer.
Der Priester ist irgendwie seltsam. Er labert seine Mantras runter, katscht dabei den Beteltabak und wischt sich zwischendurch die Sabber mit seinem Tuch ab. Das erinnert uns an die häufig mit dem Paansaft gefüllten Münder indischer Männer, die die rote Flüssigkeit beim Sprechen zwischen den Zähnen balancieren oder die Suppe lautstark in jede Ecke rotzen. Zum Glück immer nur knapp an uns vorbei. Die alte Tradition des Betelkauens (paan) gilt in Indien als Genuss- und Rauschmittel. 

Der Priester verteilt Blütenblätter, tippt allen die tikka auf die Stirn und sprenkelt Reiskörner in den Raum. Wir verlassen die Zeremonie, genau wie Monica, vorzeitig und packen unsere Taschen.
Bis wir wirklich loskommen, vergeht noch eine ganze Weile, denn wir haben noch die obligatorischen Fototermine. Wir radeln davon und sind einfach nur fertig. Schon allein die letzte Stunden waren wieder so abgefahren, dass wir langsam gar nicht mehr klar denken können. Die Stimmung ist im Keller. Wir sind erschöpft und genervt. Da hilft nur noch eine rettende Umarmung.

Wir verlassen die geschäftige Stadt, es wird schnell dörflicher und ruhiger. Wir kommen heute wieder via Couchsurfing unter. Diesmal bei Radu. Er besitzt ein kleines, gemütliches Hotel am Rande des Nationalparks mit grünem Garten. Unser Zuhause ist eines der Zimmer, die er sonst vermietet.
Er erzählt uns, dass es schon als kleiner Junge sein Traum war, eine Unterkunft für Gäste zu eröffnen und sich bestens um sie zu kümmern. Wir spüren direkt, dass dies hier nicht Radus Arbeit, sondern seine Leidenschaft ist. Er umsorgt uns vom ersten Moment an ganz wundervoll. Wir dürfen so lange bleiben, wie wir wollen.

Am Abend fahren wir mit seinem Auto gemeinsam in ein Restaurant. Doch zuvor halten wir noch beim Alkoholshop seines Vertrauens, um ein Bierchen für den Abend einzukaufen. Es geht zurück nach Ramnagar, zurück auf die Straße durch den Nationalpark, von der wir gekommen sind. Dort befinden sich unzählige Hotels und Restaurants.
Das riesige Restaurant im europäischen Stil, welches wir besuchen, ist nahezu leer. Vermutlich gibt es hier einfach zu viele. Hier darf man das mitgebrachte Bier einfach im Restaurant trinken, da es in Indien oft gar keinen Alkohol zu bestellen gibt. Es folgt ein sehr lustiger Abend. Radu ist tiefenentspannt und total interessiert. Endlich können wir hier in Indien mal ernsthafte und tiefergreifende Gespräche führen. Radu erzählt uns, dass ihm das oft fehlt und er sich deshalb so darüber freut, durch Couchsurfing in Kontakt mit Reisenden aus anderen Ländern zu kommen. Auch er ist extrem von dem oberflächlichen Gerede, dem no-problem Problem, der ganzen Betrügerei und Abzocke so mancher Menschen hier genervt und es fällt ihm schwer, den Leuten dadurch noch zu vertrauen. Wir können ihn mehr als verstehen. Auch uns strengt es an, jede Aussage hinterfragen zu müssen und wir sind ja erst seit drei Monaten damit konfrontiert.

Die letzten Tage in Indien sind noch einmal zäh. Wir quälen uns den Highway entlang. Unser Gemüt ist erschöpft, unsere Beine sind ganz schön schwer. Ein Blick auf den Tacho verrät, dass wir seit Rishikesh knapp 7.000 Höhenmeter überwunden haben. Zum Vergleich: In Armenien waren es insgesamt knapp 10.000. Eine Sache, die bei all den Eindrücken schnell untergeht und uns gar nicht so bewusst war.

Indien ist so verrückt, so unvorhersehbar, selbst der Grenzübergang soll uns erneut komplett überraschen. Es wird einer der entspanntesten unserer Reise. Doch bis es soweit ist, rollen wir auf  der immer schlechter werdenden Straße unsere letzten Kilometer in Indien. Am Ende ist es fast eine Schotterpiste, die letztlich über einen Staudamm führt.
In einem kleinen Häuschen müssen wir uns bei einer sehr entspannten Frau unseren Stempel abholen. Wir sind die Einzigen hier, die einen benötigen. Indische und nepalesische Bürger*innen können die Grenzen ähnlich wie in Europa visafrei passieren, was hier zum alltäglichen Bild gehört.
Etwas weiter noch ein Checkpoint mit Soldat*innen, ein letztes Mal in das große Buch eintragen und dann haben wir es auch schon geschafft. Datenschutz ist hier eher Fehlanzeige. Wir sehen, dass gut drei Stunden vor uns ebenfalls zwei Touristen die Grenze überquert haben. Es sind ebenfalls zwei Radler, die wir die nächsten Tage öfter auf der Straße treffen werden und zu deren Verwunderung auch direkt mit Namen ansprechen können.

In Nepal werden wir dann mit einer richtigen Schotterpiste begrüßt. Nichts erinnert an eine Grenze. Wir müssen uns sogar durchfragen, wo denn hier ein Kontrollposten sein soll. Uns wird ein kleines Haus gezeigt, in dem wir unsere Visa beantragen. Die zwei Männer begrüßen uns mit einem herzlichen Lächeln, reichen uns Kissen und bieten uns an Platz zu nehmen. Dann füllen wir das Onlineformular aus, das im Anschluss von den Beamten ausgedruckt wird. Kurze Zeit später klebt der erste Sticker in unserem Pass, er ermöglicht uns eine 90 tägige Reise durch Nepal!
Ein paar Meter weiter passieren wir dann doch noch einen Checkpoint mit Soldat*innen, die unseren Pass kontrollieren und uns herzlich Willkommen heißen. Nach kurzem Plausch wird dann auch schon unser erstes nepalesisches Selfie geschossen.

Jetzt kann es los gehen, unser nächstes Abenteuer!

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Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Jana

    Hi ihr Zwei!
    Ein spannender und erlebnisreicher Artikel! Zum Glück seid ihr dem nachmittags gerne umherstreifenden Tiger nicht begegnet! Wir haben bis jetzt „nur“ mit schlecht gelaunten Streunern zu kämpfen, aber die großen Katzen bei euch sind ja next Level!
    Schön dass ihr weiterhin auch ehrliche und herzensgute Menschen trefft, das macht das Reisen so wertvoll!

    Liebe Grüße aus der Türkei!

    Joel und Jana

  2. Karen Schröder

    Liebe Isabel und lieber Sebastian!
    Wir wünschen euch, dass ihr in Nepal zuverlässige Leute trefft und eure Nerven sich erholen können. Wilde Tiere im Tierpark sind manchmal doch nicht schlecht …..
    Eine gute Weiterreise!
    Viele Grüße von Karen und Renate 🚵🚴