In unseren ersten Wochen in Nepal werden wir überrascht. Vor allem von der Vielfalt, die dieses Land zum Beispiel in Bezug auf Klima, Geografie oder Ethnien mit sich bringt. Wir radeln durch die Ebenen des Tieflandes und tauchen dabei ein in die wilde Natur des Dschungels.
Nepal – Wir sind tatsächlich in Nepal. Wenn wir an Nepal denken, erscheinen uns zuallererst die Berge, die höchsten Berge dieser Welt, vor dem inneren Auge – der Mount Everest, was sonst! Da gibt es doch die Sherpas, die den Bergsteiger*innen dieser Welt, das Equipment zum Base Camp tragen. Kathmandu, eine malerische und faszinierende Stadt, mit all ihren schönen, alten Gebäuden, den Tempeln der Buddhist*innen. Doch was wissen wir darüber hinaus eigentlich wirklich über Nepal? Wenn wir ehrlich sind, so gut wie gar nichts.
Fangen wir damit an, dass hier gerade einmal um die 10 % der Bevölkerung dem Buddhismus angehören. Der Großteil glaubt, wie auch in Indien, an den Hinduismus. Es handelt sich zwar um zwei verschiedene Weltreligionen, allerdings haben sie sich hier im Laufe der Zeit eng miteinander verwoben. Hinduistische und buddhistische Kultstätten koexistieren nicht selten nebeneinander. Als wir dies lesen, bemerken wir, dass wir wirklich keine Ahnung von diesem Land haben, welches bis 2008 noch eine Monarchie war.
Der nächste große Irrtum wird uns bewusst, als wir unsere Route durch Nepal konkreter planen. Die höchsten Berge der Welt sind zwar omnipräsent, aber es gibt eben auch Mittelgebirge und das Terai, was übersetzt so viel wie „fruchtbares Tiefland“ bedeutet. Es macht knapp 20 % der nepalesischen Landesmasse aus und was wohl noch beeindruckender ist, ca. die Hälfte der Einwohner*innen Nepals leben in der tropischen bis subtropischen Tiefebene. Auf ca. 150 km Luftlinie erhebt sich das nepalesische Terrain von knapp 100 m auf unglaubliche 8.848 m Höhe, was schon ein Hinweis darauf ist, welche Vielfalt uns hier schon allein in Bezug auf Landschaften sowie klimatische Bedingungen erwartet.
Kommen wir noch zu einer abschließenden Halbwissen-Anekdote über Nepal. Ja, es gibt sie die Sherpas, doch hierbei handelt es sich um die wohl bekannteste ethnische Gruppe Nepals und nicht um die nepalesische Bezeichnung für die Träger*innen. Die Sherpas leben in der Gegend um den Mount Everest, pardon Sagarmatha („Stirn des Himmels“), denn so heißt der Berg auf Nepalesisch oder Chomolungma („Mutter des Universums“) auf Tibetisch. Der Internationale Name rührt aus der Kolonialzeit, die Nepal zwar nie wirklich direkt betroffen hat, aber eben irgendwie doch. Georg Everest vermaß unter dem Auftrag der britischen Krone einst den indischen Subkontinent und eben auch den höchsten Berg der Welt. Obwohl es ihm nicht als Bedürfnis erschien, sollte er auf Zwang der Krone, zum Namensgeber des höchsten Berges der Welt werden.
Es gibt eine unglaubliche Vielfalt an weiteren ethnischen Gruppen in Nepal, die friedlich neben- und miteinander leben. Wir beginnen bei den Tharu.
Wir radeln unsere ersten Kilometer durch Nepal und sind nach drei Monaten mehr als froh über den Tapetenwechsel. Es ist schon wieder so verrückt. Wir wollen ja nicht in diesem länderspezifischen Schubkastendenken feststecken, aber wir fühlen es eben. Uns schlägt direkt eine andere Mentalität entgegen. Vielleicht, weil wir unsere Mindsets neu gestartet haben, vielleicht aber auch, weil wirklich etwas dran ist. Es sind wieder die kleinen Dinge, die unsere Gedanken diesbezüglich unterstreichen. Wir wechseln beispielsweise Geld an einem kleinem Geschäft und bekommen ohne mühsame Verhandlung den offiziellen Kurs ohne jegliche Gebühren ausgezahlt. Allein, dass an einem kleinem Obststand mit mehreren Gewichten und nicht pauschal mit dem 1kg-Gewicht gearbeitet wird, weckt in uns das Vertrauen, dass man uns nicht direkt über den Tisch ziehen möchte.
Die Menschen lächeln uns offen entgegen, Gespräche beginnen nicht mehr mit dem Smartphone und den Worten „Selfie, selfie, pic, please!“, sondern mit ehrlichem Interesse. Plötzlich teilen wir uns die Straße nicht mehr nur mit LKW, Scooter und Bussen. Seit der Grenze strampeln viele Nepalis ganz gemütlich und entspannt mit uns die Straße auf ihren Drahteseln entlang. So viel Zweiradgesellschaft hatten wir in noch keinem Land auf unserer bisherigen Reise. Auch wenn die Frauen in Nepal leider weit von der Gleichberechtigung entfernt sind, so wirkt das Straßenbild doch viel ausgeglichener als es in Indien der Fall war.
Doch eine Kleinigkeit, die Nepal immer so gern nachgesagt wird, lässt wohl noch etwas auf sich warten – Ruhe! Es ist zwar alles nicht mehr so hektisch und das laute Hupen auf der Straße wird immer seltener, doch als wir am Abend gerade den Sonnenuntergang bestaunen, beginnen die altbekannten Bässe in weiter Ferne erneut zu dröhnen. Auch am folgenden Tag, als wir gerade Mittagspause an einem kleinen Bach machen, beginnt die Beschallung aus den blechern klingenden Boxen. Dabei ist das wiederkehrende Echo allein so laut, dass es zur Beschallung reichen würde. Wir erfahren, dass auch in Nepal die Hochzeitssaison nun direkt vor der Tür steht.
Wir radeln im flachen Terai. Am Horizont im Norden erheben sich die ersten Hügelketten. Im Süden verliert sich der Blick in der stickigen, staubigen Luft. Der Highway H01, der wohl eher an eine abgenutzte Bundesstraße als an eine Autobahn erinnert, schlängelt sich immer weiter gen Osten. Bhimdatta ist die erste, größere Stadt, die wir in Nepal passieren. Wir erblicken zunächst graue Hausfassaden und rudimentäre Behausungen direkt neben einer Mülldeponie. Wieder blicken wir der Armut direkt ins Gesicht. Die Straßen in der Innenstadt gleichen einer einzigen Baustelle.
Wir überqueren ausgetrocknet Flusstäler, nur in den größeren hat die Trockenzeit noch das türkisblaue Wasser aus den Bergen zurückgelassen. Entlang der Straße befinden sich immer wieder kleine Städte und Dörfer, manchmal lediglich ein paar Stände. Die braunen Lehmhäuser mit Schilfbedachung neben gelb leuchtenden Senffeldern, in denen ab und an ein roter Sari heraussticht, prägen unsere Aussichten beim Radeln. Grüne Bananenbäume, die mit einer leichten Staubschicht überzogen sind, umranden die Häuser und gehören wohl genau so zum Bild, wie die kleinen Netze voller Grünzeug, die für die Ziegen überall als Futtertrog herumbaumeln.
Wie in Indien, gehört der grünende Streifen vor den Bergen den Wildtieren. Immer wieder durchqueren wir größere Abschnitte des Dschungels. Angenehme Luft und die Aufregung, ob da nicht irgendwo doch vielleicht ein Tiger um die Ecke schaut, sind unsere täglichen Begleiter im Kopf. Viele Warnschilder vor Elefanten, Tiger & Co führen zu einem Gefühlscocktail aus Endorphin- und Adrenalinschüben. Zum Zelten ist das Gelände dadurch auch extrem ungeeignet und so sind wir auch in Nepal an Unterkünfte gebunden.
In der kleinen Stadt Chisapani kommen wir am frühen Nachmittag an, was uns genügend Zeit für die Suche nach einer Unterkunft lässt. Wir radeln von einem Hotel am Highway zum nächsten. Der ungepflegte, stickige Rumpelstil gehört wohl auch in Nepal zum gängigen Standard. Wir brauchen und wollen ja keinen Luxus, wir suchen einfach nur ein Zimmer, im besten Fall mit einem Fenster, das vielleicht mal nicht in einen zwei Meter breiten, stickigen Innenschacht führt oder Wände, die auch bis zur Decke verlaufen und nicht kurz davor aufhören. Zur Belüftung trägt diese Konstruktion jedenfalls nicht bei.
Wir verlassen den hektischen Highway und fahren etwas ins Dorf hinein. Wir finden ein unscheinbares Hotel in der zweiten Reihe. Ein großes Schild beweist es. Doch die nette Vermieterin sagt immer wieder, wir können hier nicht unterkommen. Wir sollen etwas weiter fahren, da sei ein Resort. Da wir zuvor mit einem Gast gesprochen haben, wussten wir jedoch, dass es sich wirklich um ein Hotel handelt. Wir bohren nach. Fragen sie mit Händen und Füßen, ohne, dass wir uns auf Englisch unterhalten können, warum wir kein Zimmer haben dürfen. Nach einigen Minuten harter aber herzlicher Verhandlung stellt sich heraus, dass die Frau denkt, das Zimmer sei nicht gut genug für uns. Es habe nicht den Anspruch für ausländische Tourist*innen. Wir bestehen darauf es zu sehen. Als wir das Zimmer erblicken sind wir mehr als glücklich. Es gibt eine Dusche, ein Bett und ein Fenster mit frischer Luft. Was will man mehr. Auf unsere freudigen Gesichter reagiert sie zunächst stutzig, dann aber doch sehr zufrieden.
Chisapani liegt am Fuße der Berge. Hier tritt der Jamara aus dem Himalaya und fächert sich deltaförmig auf. Der Fluss wirkt genau so gewaltig, wie die anstehenden Berge, dabei ist gerade Trockenzeit. Wir schlendern durch die ruhige Bergstraße des Dorfes. Es ist eine angenehme Atmosphäre. Die kleinen Häuser aus Lehm und Holz mit Wellblechdächern zieren den Straßenverlauf. Das untere Zimmer des Hauses ist oft offen bzw. stehen die Türen offen und das Leben schwappt aus der Wohnung direkt auf die Straße hinaus, die entsprechend belebt ist. Vor dem Haus befinden sich die ins Mauerwerk halbintergierten Lehm-tandori, auf denen schon das Feuer lodert. Später zischen hier die Reistöpfe oder das Senföl brutzelt die Kreuzkümmelsamen. Kinder spielen auf der Straße, stellen dies jedoch im Moment, in dem sie uns erblicken sofort ein und begrüßen uns daraufhin lautstark. Unsere Antwort mit namaste und entsprechender Handbewegung lässt sie kurz verstummen, bevor sie ihre Hände ehrfürchtig zu einem namaste zusammenführen und im Anschluss schnurstracks kichernd davonlaufen oder einfach weiterspielen.
Am nächsten Tag ist dann schon nach wenigen Kilometern, an einem Checkpoint an der Forte zum Bardia National Park, Schluss für uns. Der Highway verläuft hier ca. 15 km durch den Nationalpark. Da es in der jüngsten Vergangenheit vermehrt zu Angriffen durch Tiger gekommen ist, dürfen hier keine Fahrräder mehr passieren und das Fahrrad gehört im nepalesischen Straßenverkehr, zumindest im Terai, genauso dazu wie das Motorrad. Auch diese dürfen nicht so einfach diese Passage durchqueren. Sie müssen in kleinen Gruppen zwischen Lkw oder Bus das Stück durchfahren. Autofahrer*innen bekommen eine Zeitkarte, die sie am Ende wieder vorzeigen müssen. Für uns geht es auf der Ladefläche eines Lkw weiter.
Am nächsten Checkpoint angekommen, verlassen wir den Highway und radeln auf einer kleinen Straße gen Süden. Wir wollen für ein paar Tage im Nationalpark pausieren und uns ironischerweise auf die Suche nach dem Tiger begeben, vor dem wir ja gerade noch so vehement beschützt werden mussten. Die Straße führt durch Wälder entlang der kleinen Tharu-Dörfer. Die Tharu leben traditionell in strohgedeckten Hütten mit Lehm- oder Flechtwerkwänden. Es wird angenommen, dass sie die frühesten Bewohner*innen des Terai sind. Besonders spannend finden wir die Tatsache, dass sie mit einer gewissen Widerstandskraft gegen Malaria gesegnet sein sollen. Heute arbeiten viele Tharu als Wildtierguides in der Tourismusbranche.
Wir genießen es der Natur näherzukommen, bis wir auch hier wieder die lauten Bässe dröhnen hören. Wir können es nicht fassen. Wir sind doch im Nationalpark? Aber auch hier siedeln sich immer mehr Resorts an, in denen das Feiern der Hochzeit Hochkonjunktur hat und die Natur eher zweitrangig ist.
Wir finden einen wunderbaren Platz im Wild Planet Eco Retreat am Rande des Bardia National Park. Dort gibt es kleine Lehmhütten im Tharustil mitten in der Natur: einfach, aber wunderbar. Siba und Barista begrüßen uns herzlich und wir fühlen uns direkt wohl. Neben Nepali sprechen die beiden auch die Sprache der Tharu, genau wir knapp 6 % der Bevölkerung. Wir genießen die entspannte Stimmung. Zumindest bis die frechen Affen uns begrüßen, die wohl am Essen in unseren Radtaschen interessiert sind und deshalb unser Zimmer stürmen wollen. Wir bekommen zwei Bambusstöcke zur Abwehr in die Hand gedrückt. Wir sind halt im Dschungel.
Am Abend lernen wir dann auch Baba kennen, der dieses kleine Paradies hier gemeinsam mit seinem Bruder Prakash und mit der Hilfe von Freunden geschaffen hat. Er ärgert sich sichtlich darüber, dass er und seine Gäste heute während der Safari keinen Tiger erspäht haben. Wir spüren direkt seine absolute Leidenschaft für den Dschungel, denn sie erfüllt den ganzen Raum. Wir verbringen den Abend im kleinen Restaurant, in dem täglich frisch gekocht wird, mit allen Gästen aus England, Spanien und Frankreich bei einem kühlen Bierchen. Die beiden Radlerjungs, die wir seit der Grenze immer wieder getroffen haben, sind nun auch hier. Es herrscht eine herrliche Stimmung. Alle sind ganz erfüllt von ihren heutigen Dschungelabenteuern.
Bevor es für uns zu Fuß in den Dschungel geht, legen wir noch einen Tag Pause ein. Wir werden von großen Tropfen auf dem Wellblechdach geweckt. Der Grund ist die feuchte Luft, die die Dschungellandschaft jeden Morgen in einen mystischen Nebel taucht, bevor die Sonne emporsteigt und so warm strahlt, als hätte es den nasskalten, düsteren Morgen nie gegeben. Beim Spaziergang durchs Dorf wird uns noch einmal klar, wie nah am Dschungel wir eigentlich wirklich wohnen und vor allem bewusst, dass die Tiere und Pflanzen die menschengemachten Grenzen dazwischen herzlich wenig interessieren. Exotische Vogelstimmen und knisternde Geräusche erklingen in den Ohren und die Augen erblicken Makaken, Languren und Rehe auf dem Weg ins Dorf. Auch dort herrscht eine ganz besonders entspannte Stimmung.
Um sechs Uhr klingelt der Wecker. Nach dem Frühstück geht’s im ersten Licht bewaffnet mit Bambusstöcken, Fernglas und Proviant los. Der Bardia-Nationalpark gehört, neben dem populären Chitwan-Nationalpark, zu den wenigen Wildparks der Welt, die in Begleitung eines Guides zu Fuß erkundet werden dürfen.
Direkt am Parkeingang hören wir einen Tiger rufen. Dass es so schnell geht, hätten wir wohl beide nicht erwartet. Allerdings handelt es sich um einen Tiger, der auf dem Gelände der Parkverwaltung im Käfig leben muss, da er angeblich Menschen getötet hat. Der erwidernde Ruf kommt dann allerdings wirklich aus dem Dschungel, befindet sich allerdings laut Baba ziemlich weit weg. Das Adrenalinlevel ist jedenfalls direkt hoch.
Nach den Formalitäten laufen wir los, überqueren einen kleinen Fluss und es folgen die wichtigen Erklärungen für den Ernstfall. Baba erklärt uns, dass wir bei einer Begegnung mit Tiger oder Leopard Augenkontakt mit dem Tier herstellen müssen und erst dann handeln, wenn das Raubtier etwas tut. Die Wildkatzen planen ihre Vorgehensweise sehr strategisch. Er erzählt uns aber auch, dass wir eigentlich keine natürliche Beute sind und die Gefahr seiner Erfahrung nach viel höher bei einer Begegnung mit Elefanten oder Nashörnern ist, da sie viel aggressiver auf den Menschen reagieren. Beim Nashorn hilft es wohl nur sich auf einen Baum zu retten und beim Elefanten kann man sowieso nur hoffen. Mit diesem neuen Wissen wird uns nun doch etwas mulmig zumute. Vermutlich macht aber genau diese Anspannung die Sache so aufregend.
Wir laufen durch den morgendlichen Nebel immer tiefer in den Dschungel. Baba zeigt uns stumm mit seinem Stock Tigerkratzspuren oder alte Tigerkacke im Gras. Noch keine frische Spur, aber schon alleine die Natur- und Geräuschkulisse, die uns umgeben, sind atemberaubend. Verschlungene Bäume, die ineinandergreifen, Lianen, dicke, grüne Blätter und all das Zirpen, Summen und Vogelgezwitscher, was uns umgibt. Alle Sinne sind geschärft. Es tropft, raschelt, knistert und plötzlich … halten wir schlagartig an. Baba läuft schneller, rennt. Wir verfolgen einen Tiger, allerdings lässt er sich noch nicht genau lokalisieren. Wir gehen weiter, stoppen wieder an dem ein oder anderen Punkt, halten inne. Nichts mehr.
So geht es immer weiter bis zum Mittag. Wir entdecken frische Tatzen im Sand, lassen uns an einem kleinen Fluss im Gebüsch nieder, beobachten einen Eisvogel beim Jagen. Noch immer liegt der Nebel dicht über dem ganzen Grün. Heute schafft es die Sonne wohl nicht mehr hindurch. Es bleibt kühl. Das Fokussiertsein macht müde. Wir essen erstmal Mittag. Baba ist enttäuscht. Im Dschungel bewegt sich nicht viel. Er denkt, dass es zu kalt ist und sich die Tiere deshalb nur wenig bewegen und dadurch auch schwer zu finden sind.
Dann „bellt“ plötzlich ein Reh. Sofort machen wir uns auf den Weg. Am grünen Beobachtungsturm herrscht Hochbetrieb. Gäste schnattern wild durcheinander und können einfach nicht die Klappe halten. Die Guides tauschen sich über mögliche Fährten aus, aber bisher wurde heute noch kein größeres Tier gesichtet. Außer von einer Frau, die auf dem Weg ins Gebüsch plötzlich von einem Schwarzbär angeschaut wurde. Baba erzählt uns, dass er hier noch nie einen Bären gesehen hat. Der Dschungel ist wohl immer für eine Überraschung bereit…
Wir bezweifeln jedenfalls, dass wir an diesem Punkt auch nur ein Tier sehen werden. Doch es soll anders kommen. Kurz bevor wir aufbrechen wollen, bahnt sich in der Ferne ein Nashorn den Weg zum Fluss, trinkt genüsslich und verschwindet dann wieder im hohen Elefantengras.
Während die anderen Gruppen noch auf dem Beobachtungsturm bleiben, machen wir uns wieder auf den Weg ins Dickicht. Wir sind auch ganz froh darüber, denn durch Bewegung wird uns wärmer als beim Sitzen und Warten. Als wir wieder das Grasland erreichen, erblicken wir unzählige Rehe, aber wo ist der Tiger?
Wenig später entdecken wir etwas Graues über dem hohen Gras. Ein Nashorn. Baba ergreift sofort die Chance. Wir pirschen uns durchs hohe Gras immer weiter heran. Als wir schon recht nah dran sind rutscht Isi plötzlich aus. Das kann doch echt nicht wahr sein. Danach Hustenanfall. Vielleicht vor Schreck? Das kann noch weniger wahr sein. Genau diese Gedanken hat Baba wohl auch gerade.
Wir schleichen uns weiter heran. Das Nashorn schreckt auf. Wir gehen langsam zurück zu einem Baum, verstecken uns, das Nashorn stiert zu uns. Zeit auf den Baum zu klettern. Ganz schön lang her, das letzte Mal auf den Baum klettern. Irgendwann sitzen wir aber zum Glück alle irgendwie oben. Das Nashorn kommt immer näher und näher. Es ist unglaublich. So nah, es ist direkt unter uns und wir hocken hier auf dem Baum und haben die Möglichkeit dieses beeindruckende Tier im Detail zu beobachten. Was für ein Glück!
Nach einiger Zeit des unbequemen Sitzens auf den knorpeligen Ästen würden wir uns jedoch auch freuen, wenn das Nashorn nun wieder das Weite suchen würde. Nach einer dreiviertel Stunde hocken wir noch immer auf dem Baum. Das Nashorn ist zwar mittlerweile im dichten Unterholz, doch noch immer in Schlagdistanz. Da steht es nun, ohne jegliche Bewegung und starrt uns an.
Baba hat eine Idee, er spielt den Ruf einer Eule auf seinem Smartphone ab. Nach wenigen Sekunden kommt die Antwort von einer der größten Eulen der Welt. Es ist ein dumpfes, schallendes, lautes Geräusch, gefolgt von einer kurzen Stille, bevor das Nashorn in ruckartigen, gewaltigen und vor allem schnellen Bewegungen tief in den Wald prescht. Wir können es kaum fassen, was gerade passiert ist, steigen hinab und genießen den Rest der Safari.
So ein Tag auf Beobachtungstour kann schon sehr ermüdend, anstrengend oder auch langweilig sein, doch wir haben inzwischen genügend Adrenalin intus!
Am Abend sitzen wir wieder an der kleinen Feuerstelle, lauschen Babas Geschichten und genießen die europäische Gemeinschaft, die uns umgibt. Es tut gut, sich mal wieder etwas tiefgreifender zu unterhalten.
Auch Baba lässt uns wissen, dass hier nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen ist. Der Klimawandel und die Wasserpolitik sind natürlich auch in Nepal präsent. Früher, als der Fluss noch Unmengen Wasser in allen Armen führte, konnte man hier noch regelmäßig Flussdelphine schwimmen sehen. Er ärgert sich über all die Resorts, die hier direkt um den Nationalpark entstehen. Die Resorts, die für eine Lärmverschmutzung sorgen und die Tierwelt verunsichern und verwirren.
Selbst die Nationalparkverwaltung ist in seinen Augen nicht an der allgemeinen Biodiversität interessiert, sondern nur am gewinnbringenden Tiger. So werden immer wieder Grasflächen abgebrannt, da das frische Gras unter der zurückbleibenden Asche dem Rotwild sehr willkommen ist, was wiederum zur Lieblingsspeise des Tigers gehört. Doch das dadurch so viele andere Tiere den Lebensraum verlieren oder gar verbrennen, wird wohl gekonnt ausgeblendet. Auch wir sehen verbrannte Vogelnester in der klimmenden Asche. Baba erzählt, dass es mittlerweile auch nur noch sehr selten Schlangen zu sehen gibt.
Aber es gibt noch ein viel größeres Problem, die Akzeptanz der Wildtiere in der Bevölkerung. Baba selbst ist auf Aufklärungsmission in Schulen unterwegs, aber es ist ein zäher Kampf. Seine Familie stammt aus einem Dorf mitten im Schutzgebiet. Im Zuge der Entstehung des Nationalparks wurden die Dörfer umgesiedelt. Er erzählt, dass die Menschen früher bewusster gelebt haben. Man kannte die Gefahr und hat sich entsprechend anders verhalten. Heute gibt es Menschen, die denken, die Tiere halten sich an die Grenzen des Nationalparks, an Zäune oder Linien auf Karten. Sie gehen blauäugig in den Wald und so kommt es immer wieder zu Unfällen und die Missgunst wächst.
Die Bewohner*innen versuchen ihr Land gegen die Tiere zu schützen, zu verteidigen und so klettert auch neben unseren Hütten jeden Abend ein älterer Mann auf einen Aussichtsturm. Er hält hier tatsächlich seit über 20 Jahren wirklich jeden Abend Wache. Eines Nachts wird es laut, wir hören Rufe, Blechtrommeln, Hundegebell. Am nächsten Morgen erfahren wir, dass ein Elefant ein Lehmhaus zertrampelt hat. Ersatzzahlungen von der Regierung bleiben wohl aus. Aus Babas Sicht ein riesiger Fehler, da es den Unmut gegenüber den Wildtieren nur noch weiter verstärkt und die Schere zwischen Menschen und Natur verstärkt wird.
Ja es ist ein Problem und ein Konsens liegt nicht auf der Hand. Steigenden Bevölkerungszahlen, mehr Sicherheitsgefühl und Naturschutz müssen erst einmal unter einen Hut gebracht werden. Die Regierung hat die Schutzgebiete in Nepal mit wenig Zusammenarbeit der Einheimischen und ohne deren Mitwirkung eingeführt. Sie wurde eher vertrieben. Neuere Initiativen konzentrieren sich glücklicherweise mehr auf die lokale Bevölkerung und das Miteinander.
Das sogenannte Gemeindewaldmodell verspricht Erfolge. Auch in Bardia gibt es den sogenannten Community Forest, der das eigentliche Schutzgebiet umgibt und als sogenannte Pufferzone gilt. Die Dorfbewohner*innen dürfen hier ihr Holz und Nahrung für ihre Nutztiere sammeln. Die Einnahmen, die hier beispielsweise durch Ausflüge und Übernachtung in einem Baumhaus entstehen, gehen nicht an ein paar Wenige, sondern an die Dorfgemeinschaft selbst. Die Hoffnung ist, dass so wieder mehr Akzeptanz und ein besseres Miteinander zwischen Menschen und Natur geschaffen wird.
Wir genießen die Zeit in Bardia und bleiben spontan länger. Wir können so richtig runterkommen. Am Ende sind wir viel länger im Dschungel als gedacht. Es sind die willkommene Atmosphäre und die herzlichen Menschen, die uns hier halten. Es fühlt sich an als wächst man zu einer kleinen Gruppe zusammen. Bezeichnend dafür wohl ein Abend, als Baba gerade von der Safari kommt, geschwind auf einen Jeep springt und alle einsammelt. Am Ende sind wir zu zehnt und rattern in den Community Forest. Es wurden wilde Elefanten gesichtet, die aus Indien gen Norden wandern.
Es geht zu Fuß weiter. Mit Sicheln wird der Weg freigeschlagen, der eigentlich keiner ist. Alles ist dicht verwachsen, Klettpflanzen hängen an Hose und Jacke. Einer klettert auf einen Baum, die Richtung! Immer weiter durch das Dickicht. Plötzlich Stopp! Vorsichtig gehen wir näher, da sind sie. Eine Gruppe wilder Elefanten direkt vor uns. Als sie uns entdecken rennen sie unter lautem Töörö davon und zerknackend dabei kleine Bäume. Was für eine Kraft. Was für ein unglaubliches Tier.
Nach gut zwei Wochen geht es für uns voller Faszination und mit unserem ganz eigenen Dschungelbuch zurück auf die Räder. Auch wenn wir den Tiger in freier Wildbahn nicht zu Gesicht bekommen haben, war die Zeit etwas ganz Besonderes. Natur hautnah! Nachdem wir die Majestät hinter den Gittern der Parkverwaltung gesehen haben, waren wir uns gar nicht mehr so sicher, ob wir dem Tiger wirklich von Angesicht zu Angesicht begegnen wollen.
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